Sonntagsgedanken für den Alltag (6):
Ein Bollwerk sein gegen alles Böse in der Welt.
(Nach Eph. 1.3-6;15-18; Lesung v. 2. So. n. Weihnachten A)
Januar 2011
Im Christentum herrscht der Gedanke vor, dass die Menschheit "verloren"
ist und der Erlösung bedarf. Tatsächlich machen wir unaufhörlich die
Erfahrung, dass die Menschen viele Dummheiten begehen: im Großen der Politik
und der Kirchen wie im Kleinen des Alltags. Das war und ist in der
Geschichte des christlichen Abendlandes nicht anders als in Ländern anderer
religiöser Orientierung und Weltanschauung. Die Menschen sind so, wie sie
u.a. Freud und Adler schon lange beschrieben haben: von unbewussten oder
bewussten Trieben und Interessen geleitet. Wo sie zum Zuge kommen, sind sie
zerstörerisch und vergewaltigend.
Worin besteht dann die "Erlösung"; was bewirkt der "Erlöser der Welt"?
Christen haben Jesus immer als "Erlöser der Welt" beschrieben mit der
Konsequenz, dass sie sich ganz auf ihn verlassen (haben), ohne besonders
erlöst zu sein. Vielleicht sollten sie aufhören, im abstrakten Sinne vom
"Erlöser" zu reden; vielmehr von seinen heilsamen und erlösenden Worten und
Taten. Damit hat er den Menschen in seiner Nachfolge ein Beispiel gegeben,
wie auch sie in einer unerlösten Welt heilsame und erlösende Taten
vollbringen sollten – sozusagen als Weizenkörner, die wachsen und gedeihen,
um reiche Früchte hervorzubringen.
Im Epheserbrief spricht der hl. Paulus davon, dass Gott uns Menschen Macht
gegeben hat, damit wir "untadelig und heilig vor Gott leben". Von zwei
Geistesgaben ist die Rede: von der Weisheit und Offenbarung. Wenn Menschen
bereit sind, sich darauf einzulassen, sind sie geeignet, als "Bollwerk"
gegen alle Bosheiten in der Welt Heilsames und Erlösendes zu wirken...
Die Weisheit ist die Fähigkeit, sich auf Wesentliches zu besinnen und
zu konzentrieren. Eine solche Begabung ist nicht selbstverständlich.
Normalerweise ist jeder Mensch von Anfang an auf die Planung und
Organisation seines eigenen Lebens konzentriert: auf Schule und Ausbildung;
auf Berufsausübung und Karriere; auf Familiengründung und Häuschenbau...
Dabei gibt es Tausende große und kleine Maßnahmen, die beschäftigen und
absorbieren. Erst im Alter oder nach Rückschlägen und Lebenskatastrophen
werden Einsichten geweckt, die es vorher nicht gab. Menschen mit langen und
auch tragischen Erlebnissen traut man normalerweise "Weisheit" zu im Blick
auf die Tatsache, dass niemand etwas von seinen Besitztümern und Erworbenem
mitnehmen kann ins Grab. Der Volksmund glaubt einen "Weisen" an drei Dingen
erkennen zu können: "Er schweigt, wenn Narren reden. Er denkt, wenn andere
glauben. Er handelt, wenn Faule schlafen". – A. Camus drückt es anders aus:
"Ein Weiser lebt von dem, was er hat. Er spekuliert nicht auf das, was er
nicht hat".
Das Evangelium erwähnt mit der Weisheit die Offenbarung. Damit wird
zur Sprache gebracht, dass der Mensch auf dem Weg ist und dass ihm im Laufe
seiner Lebenserfahrungen "Offenbarungen" und Einsichten geschenkt werden.
Man könnte dieses Wirken Gottes – statt "Individualisierung" –
"Personalisierung" nennen. Der Botschaft des Evangeliums ist offensichtlich
viel an der Person-Werdung des Menschen gelegen, an seiner Freiheit und
Eigenverantwortung, was schwer mit der Einordnung in ein ideologisches
System zu vereinbaren ist. Die Frage, die sich heute auch für die Kirchen
massiv stellt, lautet: Wie kann die Notwendigkeit eines persönlichen
Gewissens mit Bestrebungen in Einklang gebracht werden, die den Gehorsam,
die Unterordnung unter eine religiöse Autorität, den Glauben an allgemein
gültige "Wahrheiten" fordern und als "allein selig machend" lehren?
Vielleicht kann die Antwort nur darin liegen, dass es zuerst immer nur den
Menschen gibt, der von Gott personal und existentiell angesprochen wird.
Religiös denkende Menschen haben sich aber auch immer in Gruppen und
Gemeinschaften, in "Kirchen" zusammengetan. Sie haben Gemeinschaften
geschaffen. Umgekehrt haben sich Gemeinschaften und Kirchen – im Verlauf
ihrer "Strukturierung" und autoritär-lehrreichen "Zementierung" - immer
schwer getan, freie Menschen zuzulassen. (Selbsternannte) Autoritäten mit
ihren "Wahrheiten" sind schnell hinderlich für eine Entwicklung in Freiheit
und Mündigkeit. Vielleicht lagen dogmatisches und rechtliches Denken deshalb
außerhalb der Predigt Jesu, weil sie Blockaden sind zum eigen verantworteten
Leben und Handeln. Die Praxis der Gottes- und Nächstenliebe mobilisiert
nicht so sehr den (akademischen) Kopf des einzelnen, sondern sein Hinschauen
auf das, was sich in der Realität des Lebens als wichtig erweist.
Die Liebe kann immer nur in der Konkretheit des Lebens gelebt werden. Wäre
dieses Gebot zentral geblieben – statt das Herumhantieren mit
"Wahrheitsansprüchen" - , hätte es wahrscheinlich keine Kirchenspaltungen,
keine Religionskriege, keine Ketzer- und Hexenverbrennungen gegeben. Die
"Wahrheit" hat Vorrang gehabt vor der Liebe – eine Verkehrung dessen, was
Jesus verkündet hat?
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