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Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen?
September 2004
Die Rede von der "Würde des Menschen" ist weltweit zu einem
Allgemeingut geworden. Es gibt Kirchen, Organisationen und Verbände, die
darüber wachen. Wo Menschenrechte verletzt werden, da treten sie lautstark
in Erscheinung. Denn es gibt bis auf den heutigen Tag politische und
religiöse Systeme genug, die die Menschenrechte verletzen. Allgemein glaubt
man dies in den "unterentwickelten Ländern" mehr feststellen zu können als
in den "zivilisierten". Bei letzteren scheinen die Menschenrechte deshalb
eher gesichert, weil es die Pressefreiheit gibt und weil viel darüber
geredet wird. Dann fällt in der Praxis kaum auf, dass oft nicht realisiert
wird, worüber man selbstverständlich redet.
In allen Gesellschaften, besonders in Diktaturen und Ideologien, herrscht
der Hang vor, Menschen zu gängeln und unter ihren Einflussbereich zu
bringen, sie machtpolitisch zu missbrauchen und in ihrer Eigenentwicklung
nicht zum Zuge kommen zu lassen. Hierarchische "Seilschaften" und
"Machtstrukturen" bilden sich überall: in jedem Büro, in jeder Firma, in
jeder menschlichen Gemeinschaft, erst recht im Großen der Welt. Sie sorgen
dafür, dass die Unmündigen unmündig bleiben, die Kleinen klein, die
Einflusslosen einflusslos...
Normalerweise werden die Mächtigen in Politik, Wirtschaft, Religion... umso
mächtiger, je mehr es gelingt, die Unmündigen in ihrer Unmündigkeit zu
halten. Hierarchische Machtstrukturen leben geradezu von der Dummheit und
Ignoranz der vielen. Äußere Umstände können dann bewirken, dass Menschen
nicht zu ihrer Würde und Persönlichkeit finden. Aber auch da, wo solche
"äußeren Hindernisse" fehlen - in freien und demokratischen Gesellschaften
mit viel Wohlstand, in denen "Brot und Spiele" ermöglicht werden - stellt
sich das Faktum heraus, dass der Mensch vor lauter Bequemlichkeit gar nicht
erst dazu kommt, "Würde" zu haben; dass er sich selbst dem Anspruch
entzieht, der mit seiner Würde gegeben ist; dass er hartnäckig nicht das
sein will, was seine Würde ausmacht...
Wo der Mensch nicht zu seiner eigenen Entfaltung und Persönlichkeit kommt
und kommen will, da ist die Würde des Menschen äußerlich und
gesellschaftlich allein nicht durchsetzbar. Der Mensch muß selbst eine
eigene Kraft und Initiative dazu entwickeln. Er muß selbst die Erfahrung von
"Würde" machen, wenn er nicht ins Banale, ins Terroristische,
ins Menschenverachtende... versinken will. Die Gefahren dazu sind
heute größer denn je.
Die Frage nach der Würde des Menschen wird immer dann konkret
erfahrbar und beantwortbar, wenn das Bewusstsein wächst, ein
sinnerfülltes Leben zu führen oder auf dem Weg dorthin zu sein. Aber
schon im Ansatz wie auch im Laufe des Lebens ist dieses erwachende und
wachsende Bewusstsein gefährdet. Massenmedien und Konsumwirtschaft
suggerieren hartnäckig: Sinnvoll wird das Leben durch gutes Essen und
Trinken, durch Körperkultur, Fitness, Hygiene, Sport, Spaß und Sex... Wer
sich daran hält, wird glücklich. Das Glück kann man sozusagen
"haben", besitzen, käuflich erwerben....Oft münden solche Glücksverheißungen
in enttäuschende Sackgassen.
Die Erfahrung zeigt: das Glück und ein gelungenes Leben sind nicht auf
direktem Wege zu erreichen. In früheren Zeiten sprach man gerne vom
indirekten Weg, der zum Ziel führt. Der Weg führe über die Praxis und
Realisierung von Werten - was nicht nur dem Einzelnen, sondern einer
ganzen Gemeinschaft zugute kommt. Was dagegen in den Glücksverheißungen
einer Medien- und Konsumwelt angepriesen wird, erscheint vielen einfacher
und plausibler. Es ist kein "Umweg", der viel von einem
ausschließlich auf Wohlstand Bedachten abverlangt.
Wenn jemand eine besondere Begabung und Zielstrebigkeit bei der Realisierung
von Werten entwickelt - sozusagen eine Fertigkeit, Leichtigkeit, kreative
Kraft und Fröhlichkeit - , wird gerne von "Tugend" gesprochen. Tugend
ist etwas Gekonntes, etwas Eingeübtes, etwas "Mensch-Gewordenes", weil es in
Fleisch und Blut übergegangen ist. Man könnte sagen: der Mensch findet am
besten zu sich selbst, wenn er auf dem Weg bleibt, der die innere und
äußere Übereinstimmung der Lebensführung mit den erkannten und
anerkannten Lebenswerten zum Ziel hat.
Der indirekte Weg zu einem erfüllten Leben besteht darin, dass am
Anfang - oft mit Mühe und Zögern - ein erster Schritt getan werden
muß. Wer sich z.B. schwer tut, freimütig auf einen anderen Menschen oder
sogar Fremden zuzugehen, um ein Gespräch zu beginnen, macht beim ersten oder
zweiten Schritt die Erfahrung: Es lohnt sich, Kontakte zu knüpfen. Man
bleibt dabei nicht allein, bereichert sich im Austausch und in der Teilnahme
am Leben anderer. Selbstliebe ist nur möglich bei gleichzeitiger
Nächstenliebe...
Wer es sehr auf sexuelle Kontakte angelegt hat, wird diese bald als
leer und nichtssagend empfinden, wenn sie nicht kontinuierlich begleitet
werden von einer wachsenden Vertrautheit und Bindung an den anderen. Wo
stets von der Liebe gesprochen wird, die sich aber gegenüber
Andersdenkenden und fremden Lebensformen nicht bewährt, da wird die Liebe
(wie auch andere Werte) zur Sonntagsrede degradiert. Verbalismus
führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Lebensqualität und
Glaubwürdigkeit.
Werte sind etwas Lebendiges, etwas Wachsendes. Sie müssen stets
lebendig-wachsend sein, wenn sie nicht sterben sollen. Mit ihnen wächst der
Mensch: zu innerer Tiefe und menschlicher Reife, zu innerer Sicherheit und
äußerer Standfestigkeit, zu mehr Toleranz und Respekt vor sich selbst wie
vor anderen. Heute wird viel darüber diskutiert wie das Gewaltpotential
auf Schulhöfen und in der Gesellschaft aufgefangen werden kann; wie der
weltweite Terrorismus in seine Schranken gewiesen werden kann? - Die
Beantwortung dieser Frage hängt von der Erziehung und Einübung in Werte
ab. Sie stellen das Potential dar, welches der Welt mehr statt weniger
Frieden bringt.
I. Geistige Trägheit, die "Würde" verhindert.
Nie zuvor hat der Mensch so viele Möglichkeiten gehabt, sein Leben selbst in
die Hand zu nehmen und eigenverantwortlich zu gestalten. Schon beim
Kleinkind wird von "Eigenentwicklung" und "unverwechselbarer Eigenart"
gesprochen. Früher herrschte vielfach die "pädagogische Absicht" vor, den
Willen des Kindes zu brechen. Pubertierende waren in ein dichtes Netz
sozialer Regelmäßigkeit und Kontrollen aufgefangen. Es sagte ihnen, was
"man" tun darf und was "man" gefälligst zu lassen hat.
Viele Mechanismen, die zwar "Sicherheiten" schaffen, aber eigenständiges
Denken und Handeln verhinderten, fallen heute weg. Der Mensch, der sich von
alten Bindungen und Traditionen löst, ist dazu verurteilt, sein Leben selbst
zusammen zu basteln. Der Weg der Freiheit ist gepflastert mit Zumutungen,
Risiken, Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten. Das Leben wird zu "Ungewissheit
und Wagnis". Eigenverantwortung kann gute Auswirkungen haben. Man
gelangt aber auch leicht auf Irrwege und Abwege. Lebenskatastrophen,
Sackgassen, Erfahrungen des Scheiterns und des Misslingens können den
Menschen hoffnungslos krank machen, ihn in die Verzweiflung und Depression
stürzen, weil nichts mehr zu gehen scheint...
Die Erfahrung von "Ungewissheit und Wagnis" kann dazu führen, dass man
Risiken nicht auf sich nehmen will. Man gibt dem behüteten Haus, der
vorgegebenen Ordnung, der Beständigkeit absoluten Vorrang. Menschen solcher
Art unterwerfen sich dem allgemeinen Trend, der Herrschaft des "Man".
Sie sind auch nicht bereit und fähig zu Neuem, Ungewöhnlichem,
Nichtgewohntem, zu unbequemem Außenseitertum. Sie ziehen sich in ihre
Ego-Welt zurück. Es entwickelt sich ein Individualismus, der auf
Selbstverwirklichung und Selbsterhalt konzentriert ist. Andere Menschen und
Ereignisse spielen dann immer nur insofern eine Rolle, als sie dem Ego
dienlich sind. "Der Abstand zum Nächsten wird mitunter der Abstand zum
Mond", meint Heinrich Wiesner.
In einer Zeit, in der Traditionen immer kraftloser werden und Menschen immer
mehr auf sich selbst gestellt, auf ihre eigene (vielfach noch
unterentwickelte) Kompetenz und Entscheidungskraft angewiesen sind, tritt
ein Mangel als gravierend hervor, der in früheren Jahrhunderten als die
größte Sünde und Fahrlässigkeit angesehen würde. Sie wirkte sich umso
nachhaltiger und schädlicher für das Leben aus, je mehr äußere machtvolle
Faktoren vorhanden waren, die den Menschen zum Egoismus ohne Großzügigkeit,
zum unerträglichen Mittelmaß, zu Großtuerei und Rhetorik, zu Armseligkeiten
aller Art verleiteten. Die Sünde heißt: geistige Trägheit, Passivität.
Der Philosoph S. Kierkegaard nennt sie die "Verzweiflung der
Schwachheit", in der der Mensch "verzweifelt nicht er selber sein will".
Darin wolle er letztlich seinem eigenen Sein, seiner Eigenart und
Einmaligkeit nicht zustimmen. Aus Angst vor seinem einmaligen Weg und der
damit verbundenen Einsamkeit bei letzten Entscheidungen könne er nicht eins
sein mit sich selbst. Er könne an das (göttliche) Gute nicht glauben,
welches in ihm wohnt...
Die Unfähigkeit, das sein zu wollen, was man wirklich und im Grunde ist,
bedeutet eine Krankheit zum Tode, führt in die Traurigkeit und
Verzweiflung. Die Folgen können Selbstisolierung und "Stuberhocker -
Dasein" sein. Im Gegensatz dazu können sie aber auch zu maßlosem
wirtschaftlichen Aktivismus führen, zu Rast- und Mußelosigkeit. Was
gesellschaftlich heute "in" ist - nämlich Streß, Ruhelosigkeit, dauernde
Beschäftigung um beruflicher und wirtschaftlicher Vorteile willen - kann
durchaus auch als Flucht vor sich selbst, als Angst vor Ruhe und
Selbstbesinnung verstanden werden. Frühere Zeiten sahen darin ein Indiz,
sich nicht selbst zu lieben und zu mögen.
Sie sprechen von anderen Folgen einer solchen "Krankheit": die Unfähigkeit,
Zeit zu haben für sich und für andere. Deshalb wachsen auch keine dauernden
Beziehungen und Vertrauensverhältnisse, kein Gemeinschaftssinn, kein Respekt
vor anderen und keine Toleranz. Der Mensch, der sich selbst in seiner
Eigenart verfehlt, verfehlt den Sinn des Lebens: in Übereinstimmung
und Gleichklang leben zu lernen mit anderen und mit dem Ganzen der Welt.
Weisheitslehrer und Menschenkenner früherer Zeiten sprechen immer
wieder davon, dass die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle vor allem
in Zeiten der Ruhe und Stille geschenkt werden. "In der Nacht" schenke Gott
die zum Leben notwendigen Lieder, heißt es bei Hiob (35.10). Der
Volksmund drückt es ähnlich aus: "Die Seinen gibt’s der Herr im Schlaf". Die
glückliche Einsicht, "was die Welt im Innersten zusammenhält", hat Goethe
wie ein unerwartetes Geschenk geschildert - vielleicht nur für die Dauer
eines Blitzes, was im Nachhinein langsam und mühsam entdeckt werden müsse...
Als Gott die Welt erschaffen hatte, da habe er am letzten Tag geruht, "das
Werk gefeiert, welches er gemacht", heißt es im Buch Genesis (1.31).
Er habe es als gut empfunden. Hier werden unaufdringlich und einleuchtend
der Sinn und der Zweck aller menschlichen Wege beschrieben: nach
getaner Arbeit bedarf der Mensch in regelmäßigen Zeiten der
Aufarbeitung, der ruhigen Verarbeitung, der gelassenen Distanz gegenüber
allen Aufregungen und Anregungen des Alltags. Wenn er auf diese Weise die
Welt und sich selbst allmählich zu verstehen lernt, vermag er auch zu sagen:
das Leben, so wie es ist und wie es bestanden bzw. durchlitten werden muß,
hat sich im Nachhinein als lebenswert und sinnvoll erwiesen. Daraus
wachsen Hoffnung und Kraft für das Kommende.
Fortsetzung...
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